„Gehen wir noch eine Runde golfen?“ mag der Satz sein, den ich im Laufe meiner Kindheit und Jugend am häufigsten gehört habe. So kommt es, dass mir bis heute zu Worten wie „Sommer“ oder „Urlaub“ als erstes der Geruch von Gras und das Gefühl meiner Schuhe, vergraben im Sandbunker, in den Sinn kommen. Meine Eltern nämlich hatten es sich zur Lebensaufgabe gemacht, jede freie Minute damit zu verbringen, einen kleinen weißen Ball über weite grüne Rasenflächen zu jagen.
Ich fügte mich meist tapfer meinem Schicksal und zog auch im Nieselregen in Begleitung meiner Familie auf den Golfplatz, um „zumindest noch eine paar Bälle auf der Range zu schlagen, vielleicht wird das Wetter ja besser“ (wurde es nie), mein Bruder jedoch weigerte sich beständig, je einen Golfschläger anzufassen. Während sich seine Freunde neugierig auf unserer heimischen Puttingmatte ausprobierten, trat auf sein Gesicht jedesmal ein Ausdruck unverhohlenen Ekels, wenn er auch nur in die Nähe eines herumstehenden Bags kam.
Meine Eltern gaben sich redlich Mühe, uns mit ihrem Lieblingssport vertraut zu machen, und auch, wenn ihre Bemühungen frei von jeder Erwartungshaltung waren, entwickelte ich dank meines kindlichen Ehrgeizes schon bald eine wahre Obsession, wenn es um die Verbesserung meines Handicaps ging, und trainierte jeden Schlag, so gut es die Anlage meines Heimatclubs und gelegentliche Gastspiele hergaben. Mein Bruder, wenngleich kein bisschen interessiert, musste freilich trotzdem oft genug mit der Familie auf den Platz. Im Allgemeinen verbrachte er seine Zeit dort einzig auf der sonnigen Clubhausterrasse, wo seine Augen den Bildschirm seines Gameboy anstarrten oder aber eine nicht näher definierte Ferne, sodass er ein Bild demonstrativer Langeweile abgab, zu seiner Rechten meist eine beschwichtigend gemeinte Cola.
Nach einer Reihe von gescheiterten Versuchen mit Fußball, Kampfsport und diversen Sportarten, die mit Golf ja nicht mehr gemein haben durften als die Benutzung eines Schlägers, entsagte er schließlich gänzlich jeder körperlichen Ertüchtigung und verlegte diese stattdessen vollständig in den virtuellen Raum. An der Xbox, das gebe ich unumwunden zu, schlug er mich bald um Längen. Ich betrachtete das Geschehen meist amüsiert, blieb er doch bald alleine zu Hause vor dem Bildschirm, wenn wir mit unseren Schlägern loszogen um eine Runde an der frischen Luft zu drehen, doch mein Spott schien ihn nur noch entschlossener zu machen. Bald nahm er den Kampf mit starken Mitspielern aus aller Welt auf, kletterte in Ranglisten nach oben und verbrachte weit mehr Zeit an Konsole und Computer als ich beim Training auf der Range. Seine tragbaren Konsolen reichten ihm bald nicht mehr, um sich die Zeit auf Clubhaus-Terrassen zu vertreiben, und mit Büchern brauchte man es gar nicht erst zu versuchen – er war ein Mann der Zahlen, nicht der Worte. Eine Zeitlang hatte er mir sogar Mathe-Nachhilfe gegeben, mir von Dreisätzen, Zinsrechnung, kleinsten gemeinsamen Nennern erzählt, und von anderen Begriffen, die mir das Hirn zu Brei werden ließen.
Selbst in den Sommerurlaub begleitete er uns bald nur noch unwillig, wir hingen ja „ständig bloß in irgendwelchen blöden Golfclubs“, auch wenn wir uns bemühten, genügend Zeit für Sightseeing oder das Baden im Meer einzuplanen. Schließlich folgte, was folgen musste: Lange Teenager-Jahre voller Streits und Vorwürfe, voller Unverständnis seitens unserer Eltern für die Videospiel-Passion meines Bruders und ebenso großes Unverständnis meines Bruders, wenn es um die Golfleidenschaft unserer Eltern ging. „Gehen wir noch eine Runde golfen?“ wurde abgelöst von „Du kommst jetzt mit!“ und „Leckt mich doch!“ Es war eine laute und unbequeme Zeit.
All das änderte sich ausgerechnet am Weihnachtsabend. Mein Bruder hatte kurz zuvor seinen siebzehnten Geburtstag gefeiert und meinen Eltern widerstrebend die neueste PlayStation zu Füßen unserer deckenhohen Weihnachtstanne abgerungen. Dort war sie eins von vielen aufwendig arrangierten Päckchen – meine Mutter neigte dazu, Geschenke wie richtige kleine Kunstwerke zu gestalten, nur damit die Überbleibsel ihrer Mühen kurze Zeit später übel zugerichtet in den Mülleimer befördert werden konnten. In diesem Jahr aber trieb sie der Gedanke um, dass das Geschenk für meinen Vater ob seiner enormen Größe nicht standesgemäß hatte verpackt werden können. Stattdessen stand es voll sichtbar im Wohnzimmer. Es handelte sich um einen sündhaft teuren Golfsimulator, verziert mit einer überdimensionalen Schleife, die sich meine Mutter dann doch nicht hatte nehmen lassen. Wie albern das aussah, bedarf keiner näheren Erläuterung.
Ein paar Stunden lang hatte sich meine Mutter im heimischen Wohnzimmer eingeschlossen, um das Ungetüm dort fertig installiert aufzubahren, und als schließlich die Bescherung nahte, machten sich Unruhe und Neugier breit, was wohl so viel Zeit in Anspruch genommen haben könnte. Als wir nach verzehrtem Nachtisch das Zimmer endlich betreten durften, erschallten erwartungsgemäß und sehr zur Freude meiner Mutter einige Ah's und Oh's. Selbst mein Bruder, der hinter mir eintrat, ließ sich zu einem Laut des Staunens hinreißen. In der Erwartung, er habe nur meiner Mutter zuliebe ein wenig geschauspielert, wandte ich mich um – und blickte in ein paar große Kinderaugen, mitten im Gesicht eines beinahe erwachsenen Mannes.
Dann erkannte ich, was er in dem Simulator sah: Eine neue Herausforderung. Einen riesigen Bildschirm, nicht steuerbar über einen Joystick oder einen Controller, sondern nur mit einem echten Schläger und einem echten Ball. An diesem Abend nahm mein Bruder erstmals einen Golfschläger zur Hand, meine Familie fand den kleinsten gemeinsamen Nenner - und ich merkte, dass mir die Nachhilfestunden wohl doch etwas gebracht hatten.