Vorfreude, klar. Diese allerdings ist anders als sonst , wenn eine Golfrunde ansteht. Nicht aufgeregt. Bislang nicht. Ein Ziehen eher. Gespannt. Auf Besonderes. Ohne genau zu wissen, was. Neben mir, auf dem Fahrersitz des japanischen Pickups, gibt Junior sich „cool“. So, wie 26-Jährige das eben tun. Allenfalls gute Beobachter sähen die leicht zusammen gekniffenen Augen, die ums Lenkrad geballten Fäuste. Mich täuscht der gespielte Gleichmut nicht. „Grandview Dr W, University Place“ verheißt das Navi. Rechterhand flattert ein Grünstreifen am Seitenfenster vorbei. „Hier muss es sein, fahr‘ mal bitte in die Parkbucht da vorne.“ Wir bahnen uns einen Weg durch Büsche und dünnes Gehölz, zwischen Gesträuch und Blättern schimmert es blau. Dann gibt‘s nur noch „Grandview“. Golfhorizont. Grünbraungelb. Chambers Bay.
Gigantisches Amphitheater
Wir stehen auf dem obersten Rang des gigantischen Amphitheaters, das 2015 Schauplatz der 115. US Open war. In der Ferne räkelt sich die „Lone Fir“, die „Einsame Tanne“. Hinter dem Wahrzeichen glänzt der Puget Sund in der Septembersonne. In Chambers Bay sind sie mächtig stolz auf den weitverzweigten und inselreichen Meeresarm, haben direkt die Auftaktbahn so getauft und bemühen Vergleich zur Nordsee und St. Andrews oder zum Pazifik und Cypress Point. Die Küstenlage macht den „Sandkasten“ am Rand des Vororts von Tacoma tatsächlich zum reinrassigen Linkskurs. Inklusive Festuca-Gras sind alle Kriterien erfüllt, bloß am gesetzten Alter fehlt‘s.
Auf der US-Open-Bühne
Vor dem Major habe ich über diesen „jungen Wilden“ geschrieben, der dem Pierce County gehört, seine Entstehung aus einer ehemaligen Schotter- und Kiesgrube porträtiert sowie den Trommelwirbel für die erste US Open im pazifischen Nordwesten Amerikas protokolliert. Fasziniert habe ich kurz darauf die Golftage in der riesigen Schüssel verfolgt.
Das Hickhack ums Layout des Designers Robert Trent Jones, modelliert über zahllose Höhenwechsel und in Hanglagen, eine Achterbahn von 7.200 Metern. Den Unmut über die ausgedörrten Fairways und die kragenlosen, holprigen Grüns, die Henrik Stenson erbost mit der Oberfläche eines Blumenkohls verglich – alles so untypisch für die „Offene Amerikanische“. Natürlich das sportliche Geschehen, die Mühen von Martin Kaymer, Rory McIlroy oder Tiger Woods auf selten ebenen Fairways, in den zumeist monströsen „Waste Areas“, die Chambers Bay trotzdem Bunker nennt. Schließlich Dustin Johnsons Dreiputt auf der 18, mit dem er Jordan Spieth den zweiten Majorsieg in Folge ermöglichte und Visionen von einem Grand-Slam des Texaners ins Kraut schießen los. Jetzt, 15 Monate später, agiere ich selbst auf dieser Bühne: Tee Time 14:10 Uhr, Twilight Rate. Plötzlich ist die Aufregung da.
Spartanische Range, lässiger Starter
Das Abenteuer Chambers Bay beginnt 61 Meter über dem Meeresspiegel. Während des Lunchs im Grill blickt der nervöse Kurs-Novize quasi sehenden Auges in den Abgrund. Die Regularien finden „oben“ statt; im Pro-Shop sagt jemand, das erste Bier nach der Runde kostet den Score in Cent. Dann kutscht Larry uns per Shuttle-Bus zur Talsohle, fragt zwischen zwei Serpentinen nach Befinden und Herkunft, erzählt Dönekens. Die Driving Range könnte spartanischer nicht sein, eine Wiese mit Abschlagstreifen und ein paar Ballpyramiden. Egal, ich treffe eh nichts und gebe das Warmspielen schnell auf...
Außerdem gibt‘s ein Puttinggrün nebst Starterhaus mit Kiosk, ansonsten Golfplatz, soweit das Auge reicht. Der Starter spult mit professioneller Lässigkeit sein Programm ab: „Willkommen in Chambers Bay, Gastgeber der US Amateur 2010 und der US Open 2015… Blablabla, Sie wissen schon…“ Sagt er tatsächlich. Und dass wir den Tag genießen sollen: „Have Fun!“ Trotz gehörig weicher Knie landet der erste Abschlag in akzeptabler Distanz auf dem Fairway des Par 5, dem kleinen Holz sei Dank.
„Golf as it was meant to be“
Gut 420 Meter weiter senkt sich das erste Grün Richtung Wasser, ein Schienenstrang schneidet den Platz zur Küste hin ab. Begleitet vom Rauschen eines Amtrak-Güterzugs lochen wir unsere Bälle. Vergessen ist das Gehacke auf der Range, es wird ein grandioser Tag. Zumal mit dem besten Golfbuddy, den einer sich vorstellen kann: Der Filius schlägt eine veritable Kugel, 300-Yards-Fades, die sich gelegentlich zum Slice verirren. Dazu zwei Jungs aus dem 64 Kilometer entfernten Seattle, nette Kerle mit offenem Wesen. Den Altersvorsitz im Flight hat der Autor, ergraut von Jahren misslicher Schläge und zu kurz gelassener Putts.
Chambers Bay ist eine eigene Dimension. Jeder gute Golfplatz sollte das sein. Er sollte Länge, Breite und Höhe haben, was selbst bei ordentlichen Plätzen nicht selbstverständlich ist. Diese gerade mal neun Jahre alte Spielwiese ist mehr als gut. Sie ist großartig, exzellent, überwältigend! Ja, die meisten Bälle schlägt man in Schieflage, es geht permanent auf und ab, die Sandhindernisse sind halbe Wüsteneien mit borstigen Rändern, das Rough ist ein ruppiger Sumpf, die Grüns hängen übergangslos direkt an den Fairways.
Doch genau das ist „Golf as it was meant to be“. So war das Spiel ursprünglich angelegt. Bei alldem ist das Par-72-Ensemble fair, die Fairways sind zumeist ausladend, nicht strafend gestaltet, und geben Raum für den rechten Winkel zum Grün. Trotzdem gibt es auf unserer Runde Streuverluste, wenn die Geschosse der jungen Heißsporne irgendwo in der Ferne die Ideallinie verlassen. Mir kommt der Schlaglängenverlust des Alters zugute. Ohnehin nie ein Longhitter, klettere ich dafür gefühlt durch jeden zweiten Bunker des Ensembles.
Physisches und mentales Workout
Klettern ist durchaus wörtlich zu nehmen. Chambers Bay kostet Kraft. Physisch wie psychisch. Die golferische Herausforderung ist ein mentales Workout der Extraklasse. Unpräzise geschlagene Bälle erzeugen neue Schwierigkeiten. Selbst auf den Grüns wird Lässigkeit bestraft. Ein unsauberer Tick zuviel und sogar meine Zitter-Putts rollen und rollen und rollen…
Die Optik des Platzes tut ihr Übriges und hämmert ständig gegen die Konzentration. Loch 9 heißt „Olympus“, benannt nach einer Bergspitze auf der anderen Seite vom Puget Sund. Die längliche Abschlagbox ist der höchste Punkt des Kurses, das Grün des langen Par 3 liegt über 90 Meter tiefer und hängt nach rechts, wo eine enorme Bunkerlandschaft prangt. Sie ist eigentlich nicht im Spiel, wirkt auf Auge und Hirn gleichwohl enorm verstörend. Prompt landen drei Abschläge links vom Grün im Gebüsch. Die Zahlen auf den Scorekarten sind entsprechend.
Romantik an der „Lone Fir“
Am 14. Abschlag wird Chambers Bay vierdimensional. Wir hängen ein paar Minuten hinter der Zeit. Jedenfalls laut dem „Marshal“, der plötzlich wie aus dem Nichts mit einem mehrsitzigen Cart auftaucht. Wir gucken etwas betreten, wer will auf einem US-Open-Kurs schon unangenehm auffallen? Das legt sich indes schnell. „Schlagt ab, dann fahre ich Euch zu Euren Bällen“, beruhigt der Hüter des Spieltempos: „Auf der 15 machen wir‘s genau so, und ihr seid wieder ,in time‘.“ Eine Entspanntheit, wie man sie sich auf manchem deutschen Golfplatz generell wünscht.
Die 15. ist das „Signature Hole“ von Chambers Bay. Die „Lone Fir“ überschattet das Grün des Par 3, der einzige Baum auf dem Platz. An den Stamm gelehnt, sitzt eine junge Frau und liest, unbeeindruckt vom Golfgeschehen drumherum, völlig versunken in ihr Buch. Ein romantisches Bild. Hinter der 17 hat sich dafür eine Hochzeitsgesellschaft die baulichen Überreste der einstigen Abraumhalde als pittoreske Kulisse für Sektempfang und Fotos ausgesucht. So ist das halt auf einem öffentlichen Platz inmitten eines Naherholungsgebiets.
Ein „überteuertes“ Abschlussbier
Mit der untergehenden Sonne im Rücken geht es auf die Schlussbahn. Während eine Schar Gänse bereits das nahe Übungsgrün als Schlafplatz auserkoren hat, versenken wir ebenso erschöpft wie glücklich die letzten Bälle des Tages. Und wieder hätte Dustin Johnson in diesem Moment die US Open verloren: Im Gegensatz zum langen Amerikaner in der Finalrunde 2015 benötige ich auf dem 18. Grün lediglich zwei Putts…
Trotzdem kostet mich das Bier anschließend oben auf der Terrasse deutlich mehr als einen Dollar. Aber Chambers Bay ist wirklich jeden Cent wert.