Virginia Water schweigt. Mitte April veröffentlichte Keith Pelley seine düsteren „Gewinnwarnungen“ hinsichtlich der Zukunft nach Corona, seitdem herrscht Funkstille bei der European Tour – unbenommen der turnusmäßigen Absagen des jeweils anstehenden Turniers, begleitet von standardisierten Bedauerns-Kundgebungen. Es scheint, als habe mit dem Virus gleichermaßen eine Schockstarre das Hauptquartier in der englischen Grafschaft Surrey lahm gelegt. Aber was sollen sie auch sagen, wenn sich weiterhin kaum etwas vorhersagen lässt?
Pfeifen im Wald auf der PGA Tour?
Während die Kollegen in Ponte Vedra Beach beinahe im Wochentakt Planspiele für die PGA Tour und ihre niederrangigen Ableger veröffentlichen, dem eh überforderter US-Gesundheitssystem eine Million Tests entziehen wollen, um den Turnierbetrieb wieder aufzunehmen und terminliche Hoffnung erzeugen – wenngleich die von vielen als unrealistisch angesehen werden und ein bisschen wie Pfeifen im dunklen Wald wirken –, steht Pelley vor den Scherben seiner Ambitionen für die European Tour. Als attraktives Gegenstück zum US-Betrieb wollte der Kanadier sie aufstellen; er managte und dealte, umwarb und überzeugte; stellte (notwendigerweise) schnelles Geld vor sportliche Nachhaltigkeit, um Europas Stars wieder „back to the roots“ zu (ver-)führen, und mit der Rolex Series einen entsprechend lukrativen Turnierreigen auf die Beine.
Warnungen als Überzug für wirklich bittere Pille
Die Pandemie macht all das zur Makulatur „und unsere unermüdlichen Anstrengungen der vergangenen fünf Jahre zunichte“, konstatierte Pelley und fügte nüchtern an: „Das ist halt die neue Realität.“ Seine Vorliebe für blaue Brillengestelle sollte denn auch keineswegs mit Blauäugigkeit verwechselt werden. Sämtliche Ankündigungen einer komplett anderen Saisonkalender- und Turnier-Struktur, von deutlich reduzierten Preisgeldern etwa, verdichteten Spielplänen oder dem Verzicht auf etliche Annehmlichkeiten sind Euphemismen, ein geschmacksverschleiernde Überzug für die wirklich bittere Pille der „tiefgreifenden finanziellen Auswirkungen“: Die European Tour wandelt am Abgrund.
Wirtschaftliche Diskrepanz in der Beletage
Corona verdeutlicht wie durch ein Brennglas die wirtschaftlichen Diskrepanzen in der Beletage des Profigolf. Trotz der erneuten Rezession schwimmt die PGA Tour im Geld, weil in der Vergangenheit kräftig gebunkert wurde, und kann „mal eben“ Covid-19-Tests in siebenstelliger Anzahl für 100 Dollar pro Stück ordern. Sie verspricht ihren Mitgliedern Hilfszahlungen und hat Sponsoringpartner, die ihr Engagement in Krisenzeiten eher noch erhöhen. Weil Golf, nicht zuletzt als Show und Entertainment, in den USA schlichtweg einen völlig anderen Stellenwert hat.
In Europa hingegen ist das Spiel eine „von Amts wegen“ festgestellte Randsportart und Golf-Sponsoring in wirkmächtiger und steuerlicher Hinsicht per se eine ambivalente Sache, die sich nur wenige Global Player leisten wollen. Die schon von Pelleys Vorgängern eingeleiteten Ausweichmanöver an den Persischen Golf und nach Asien nutzen angesichts einer weltweit grassierenden Seuche gar nichts.
Chronisch klamm, teure Reformen, kostspielige Fehler
Ohnehin sind sie in Virginia Water chronisch klamm. Die Tour hängt am Tropf des Heim-Ryder-Cup, der alle vier Jahre Gewinn bringt und die Schatulle auffüllt. Dazwischen schreibt man regelmäßig Miese. George O‘Grady, so wird kolportiert, hinterließ seinem Nachfolger eine mit 20 Millionen Pfund (22,9 Millionen Euro) bestückte „Kriegskasse“. Doch Pelleys Reformen waren teuer: seine Social-Media-Aktionen, die Kreation neuer Turnier- und Medienformate, die Umformung der Tour in ein hippes Lifestyle-Unternehmen. Das ist schick, bringt indes keinen zählbaren Gewinn. Vom zusätzlichen personellen Aufwand ganz zu schweigen.
Und es gab kostspielige Fehler wie die widerrufene neue Webseite, bei der rund eine Million Pfund (1,14 Millionen Euro) in den Sand gesetzt wurden. Die Londoner „Times“ berichtete Ende 2018 über ein Betriebskapital von lediglich 424.000 Pfund (485.000 Euro); 2015 waren es noch 15 Millionen Pfund (17,14 Millionen Euro).
European Tour: TV-Verträge müssen erfüllt werden
Was bleibt, ist die Hoffnung. Im September wieder loslegen zu können, beispielsweise. Pelley wäre nicht der Makler des Machbaren, als der er sich bislang erwiesen hat. wenn er nicht zu retten versuchte, was zu retten ist. Von mehreren Turnieren am selben Austragungsort ist die Rede; von zwei Wettbewerben binnen einer oder dreien binnen zwei Wochen; von mehreren Veranstaltungen hintereinander in einem Land, um die Problematik von Einreisen und Quarantänen zu kompensieren …
Besondere Zeiten erfordern nun mal besondere Maßnahmen, zuvorderst nämlich gilt es geldbringende und überlebenswichtige Verträge mit TV-Partnern wie Sky Sports zu erfüllen. Notfalls auch hier ohne Fans am Fairwayrand. 26 Turniere muss die Tour dem Fernsehen je Saison liefern, ansonsten drohen Ausfallentschädigungen, die man sich erst recht nicht leisten kann.
Schon vor Corona nur bedingte Zugkraft
Auch dabei balanciert Pelley auf einem schmalen Grat. Das tun derzeit alle, doch seine Offerten an die europäische Elite haben schon vor Corona nicht wirklich gefruchtet. Die Großkaliber ließen sich nur bedingt aus den sonnigen Wohngefilden Floridas und von den fetten Dollar-Weiden der PGA Tour auf den vergleichsweise unwirtlichen und unwirtschaftlichen Heim-Circuit locken.
Beispiel: Die Nedbank Challenge 2019, mit 7,5 Millionen Euro das zweitbestdotierte Event der Rolex Series. Der letztliche Play-off-Sieger Tommy Fleetwood war mit Weltranglistenplatz 18 gleichzeitig bestgelisteter Teilnehmer; ansonsten fehlte, was Rang und Namen hat; selbst Champion-Golfer Shane Lowry und Jon Rahm schenkten sich den Ausflug nach Südafrika, trotzdem sie noch aussichtsreich im Race to Dubai lagen.
Stars als Katalysatoren für den Re-Start
Dieses Defizit wird bei einem Spielbetrieb mit oder nach Corona garantiert nicht geringer. Die Superstars werden mehrheitlich durch Abwesenheit glänzen, weil das ebenfalls komprimierte Programm der PGA Tour irgendwelche durch Quarantäne nochmals verlängerte Abstecher auf die European Tour kaum zulassen dürfte. Was wiederum letzterer weiteren (Sternen-)Glanz nimmt, der – zumal für einen Re-Start – als Katalysator und „Goodie“ für die Partner bitter nötig wäre.
Die European Tour reklamiert den Status als ebenbürtige Top-Liga, viele sehen sie eh als Zubringer für die PGA Tour. Nun entlarvt die Krise einmal mehr und mit erschreckender Deutlichkeit die Zweiklassengesellschaft auf der obersten Profigolf-Ebene. Mehr noch: Sie wird für Pelleys Produkt zur vitalen Bedrohung. Ob der Steuermann mit seinem krängenden Schiff auf Dauer ohne Hilfe vom großen Bruder auskommt, erscheint außerordentlich fraglich.
Kandidat für freundliche Übernahme?
Dass die PGA Tour einen begehrlichen Blick auf Virginia Water wirft, ist nicht neu; noch freilich muss sie sich mit eigenen existenziellen Fragen beschäftigen. Am Horizont hängt gleichwohl das Menetekel des unlängst besiegelten Engagements der LPGA bei der siechen LET. Derart gutmeinend familiäre Hilfestellung ist auch für eine strauchelnde European Tour denkbar. Man nennt das „freundliche Übernahme“, der angeschlagene Kandidat könnte alsbald endgültig reif sein.