20 Kilogramm schiere zusätzliche Gewalt, Drives von fast 390 Metern… Ja, „Golf-Channel“-Experte Brandel Chamblee hat recht: Die Transformation von Bryson DeChambeau in eine Art „Hulk mit dem Holz“ hat das Potenzial, Golf zu verändern. Fragt sich bloß, ob zum Guten oder zum Schlechten. Der „verrückte Wissenschaftler“ hat bekanntlich in der Corona-Zwangspause „sein Wohnzimmer in ein Labor verwandelt“ (Rory McIlroy), kehrte als Proteinshakes schlürfender Bulle auf die PGA Tour zurück und nimmt seither die Plätze mehr oder weniger auseinander. Mit durchschnittlichen Abschlagslängen von 323,8 Yards führt er die entsprechende Saisonstatistik an, knapp vor Cameron Champ – aber vermutlich nur, weil dort noch die Metamorphosen-Vorzeit reinspielt.
„Verhältnis wieder ausbalancieren“
Über die Ästhetik des neuen DeChambeau und seiner Schlagfertigkeit darf man streiten, gleichsam der einstigen Eleganz nachtrauern. Jedenfalls hat der 26-Jährige mit seinen Auftritten nach dem Restart neues Öl in die von der Virus-Pandemie überlagerte Schlagweiten-Debatte gegossen. Und prompt erheben sich die bereits etablierten Kritiker-Stimmen. „R&A und USGA können vor solchen Entwicklungen nicht länger den Kopf in den Sand stecken. Wacht endlich auf!“, ereiferte sich beispielsweise Memorial-Tournament-Gastgeber Jack Nicklaus. „Sie sehen doch, wohin diese Jungs den Ball schlagen. Aber ich höre immer: Ok, wir beobachten das. Die sollen nicht beobachten, sondern endlich was unternehmen.“ Für den „goldenen Bären“ liegt die Lösung auf der Hand: „Es wäre so einfach, den Ball etwas zu modifizieren – ich rede mir diesbezüglich seit 43 Jahren den Mund fusselig.“
423-yard drive. ?
Hits approach to six feet. ?
Makes the putt. ?@b_dechambeau gets back to even par.#QuickHits pic.twitter.com/b7DOnHR5oo— PGA TOUR (@PGATOUR) July 16, 2020
Wenigstens reden die Regelinstanzen nun wieder drüber. Schon vor einiger Zeit hat R&A-Chef Martin Slumbers verlauten lassen, dass man einer solchen Überforderung von Turnierbühnen nicht tatenlos zusehen werde. „Nach meiner tiefen Überzeugung ist Golf ein Spiel, dass auf ,Skills‘, auf Geschick, Können und Kunstfertigkeit beruht, nicht auf roher Gewalt“, betont der Engländer. Und fügt eine unmissverständliche Botschaft an: „Notfalls müssen wir das Verhältnis zwischen Fertigkeit und Technik neu ausbalancieren.“ Im Klartext: Es geht um Materialbeschränkungen.
„Zusammenspiel von Ball und Schläger“
Das muss allerdings nicht unbedingt der Ball allein sein. „Das wäre zu einfach, lediglich eine Veränderung des Balls zu fordern“, sagt Slumbers. „Es geht um das Zusammenspiel von Ball und Schläger.“ Und offenkundig sind entsprechende Maßnahmen nur eine Frage der Zeit. Slumbers: „Wir werden das Thema mit großer Ernsthaftigkeit angehen, sobald wir das Gefühl haben, dass sich die von der Krise gebeutelte Industrie wieder stabilisiert hat.“
Spätestens jetzt ist es an der Zeit, den großen Arnold Palmer zu zitieren:
„Erfolg beim Golf resultiert weniger aus körperlicher Kraft denn auf mentaler und charakterlicher Stärke“ Arnold Palmer
Wenig hilfreich hingegen ist, wenn die Diskussion um inflationäre Drive-Distanzen als ausschließliche Attacke gegen die Longhitter dargestellt oder verstanden wird. Auch Slumbers kritisiert nicht DeChambeau speziell, würdigt ihn vielmehr als „echten Athleten“. Es geht um was ganz anderes: Golf ist zuvorderst ein Spiel gegen sich selbst. Und gegen den Platz.
Der Texaner repräsentiert nur das generelle Problem, wenn Brandel Chamblee sagt: „Mehr oder weniger führt er die Philosophie des jeweiligen Architekten ad absurdum.“ Bunker und sonstige Hindernisse werden von den „langen Kerls“ aus dem Spiel genommen, Doglegs einfach überschlagen. Ernie Els‘ Lösungsvorschlag von extrem verengten Fairways und kniehohem Rough hilft ebenfalls nicht, wenn die Bälle bis auf Wedge-Weite zur Fahne fliegen und das Geläuf dadurch weitgehend zum Pitch-und-Putt-Parcours degradiert wird.
Das Design ist dem technischen und athletischen Wachstum schlichtweg nicht mehr gewachsen, es kann überdies nicht mitwachsen. „Wir haben auf Dauer einfach nicht genug Land und nicht genug Geld, um ständig Plätze zu verlängern“, verdeutlicht Jack Nicklaus.
„Mein Vorsprung bleibt bestehen“
Folgerichtig fühlt sich DeChambeau auch gar nicht persönlich angegriffen oder durch möglich Maßnahmen bestraft. „Egal, welche Regel wie geändert wird: Die gilt ja dann für alle, und damit bleibt mein Vorsprung gegenüber den anderen bestehen“, hat der 26-Jährige absolut richtig erkannt. „Von daher mache ich mir überhaupt keine Gedanken und bleibe meinem Vorsatz treu, aus mir den bestmöglichen Golfer zu machen.“
Nicht nur R&A-Boss Slumbers ist schwer beeindruckt von der Präzision, mit der DeChambeau – zumal dank des supersteifen, seinem enormen Schwungtempo entsprechenden Driver-Schafts – die Abschläge aufs Fairway bringt. Also doch „Skills“. Ein bisschen Schwund ist immer, siehe den verpassten Cut beim „Memorial“; man fragt sich außerdem, wie das beispielsweise auf engen Parkland- oder auf Linkskursen aussehen wird. Doch auf den amerikanischen Bomberwiesen funktioniert‘s derart gut, dass Beobachter allenfalls DeChambeaus eher mittelmäßiges Wedge-Spiel als Dominanz-Dämpfer ansehen. Seine mittleren Eisen braucht er ja ohnehin nicht.
Letztlich ein Gefallen für Golf?
Wie gesagt: Sollte demnächst tatsächlich irgendwas an den Turnierbällen oder am sonstigen Material geändert werden, bleibt der „Hölzer-Hulk“ weiterhin der längste aller Longhitter. Bloß die Plätze ziehen nicht mehr den Kürzeren. Und damit hätte DeChambeau dem Golfsport letztlich sogar einen Gefallen getan.
Wenn die Drive-Landezonen komplizierter (deutlich schwieriger) gemacht werden würden, insbesondere für die Longhitter, warum ist das Problem damit nicht gelöst?
Andersherum – wo will man dann die Grenze setzen, wer bestimmte Bälle spielen muss (die nicht mehr so weit fliegen) oder nur noch bestimmte Schläger, mit denen man nicht mehr so abartig weit kommt?