Dieser erste Schrei. Dann die eher beherrschte Siegerfaust und Shakehands auf dem Grün. Schließlich der Ausbruch. Entfesselt. Unkontrolliert. Befreit. Erlöst. Alles schrie Tiger Woods in diesen Minuten nach dem entscheidenden Putt heraus: Die Skandale, die Verletzungen, die Operationen, die Rückschläge; die Jahre voller Angst, voller Zweifel und Verzweiflung. Alles brach sich Bahn in einer emotionalen Extase sondergleichen, während die Kommentatoren weltweit angesichts der Historie des Augenblicks nach Worten rangen.
„Return to Glory“ („Sky Sports“) traf es wohl am besten. Der Tiger wieder in Grün. Das fünfte Masters, 22 Jahre nach seinem ersten Triumph beim Golf-Hochamt zu Augusta. Das 15. Major, elf Jahre nach der US Open von Torrey Pines. Das erste übrigens, bei dem Woods im Finale nicht von der Spitze weg agierte. Die Krönung seines Comeback, das er mit dem Gewinn der Tour Championship im vergangenen Herbst schon geadelt hatte. Was für ein Paukenschlag. „ESPN“ nannte es eine „Erderschütterung“. Zumindest eine der Sportwelt, das ganz gewiss.
Daddy als YouTube-Held
Hier muss nicht wiederholt werden, was über Woods‘ wundersame Wiedergeburt bereits allerorten geschrieben wurde, es gehört in diesen Tagen zum kleinen Einmaleins jeden Golffans. Und auch die Bilder hat jeder gesehen, der sich ein wenig für dieses zumeist großartige und bei solchen Szenen erst recht grandiose Spiel interessiert. Die völlig aufgelöste Umarmung mit Sohn Charlie Axel (10) und Tochter Sam (11), mit Mutter Kultida und Freundin Erica Herman.
„Es schließt sich ein Kreis, 1997 war mein Vater hier, heute bin ich selbst ein Dad“, wird Woods später sagen – nach eigenem Bekunden „immer noch heiser von der Brüllerei“. Es war ein besonders bewegender Moment in einer ohnehin sehr speziellen Stunde: „Ich wollte ihnen zeigen, wie es ist, wenn ihr Papa ein großes Turnier gewinnt, ein paar neue Erinnerungen für sie kreieren. Sie kennen das bloß von YouTube und verbinden Golf vor allem mit Schmerz.“
Das Glück der zweiten Chance
Schon bei der Verleihung des Ben Hogan Award für das Comeback des Jahres hatte Woods diese Zeit reflektiert. Die Tage, an denen er morgens vor lauter Pein nicht aus dem Bett kam. An denen er nicht mal richtig liegen, geschweige denn irgendetwas anderes tun konnte. Die Bemerkung gegenüber Jack Nicklaus, als er beim Champions Dinner 2017 nur vollgepumpt mit einem Anästhetikum im Stuhl sitzen konnte: „Ich bin erledigt.“
„Aber irgendwann konnte ich wieder laufen, wieder am Leben teilnehmen“, sagte Woods vor der Vereinigung der amerikanischen Golfjournalisten. „Ich habe wirklich sehr oft daran gezweifelt, jemals wieder all die Dinge tun zu können, die ich so liebe, und war glücklich, eine zweite Chance zu bekommen.“
Respekt vor dem Menschen Eldrick Tont Woods
Eine vierte Rückenoperation später war plötzlich auch das Gefühl für Golf wieder da. „Ich merkte, dass ich wieder einen Schläger schwingen, irgendwie alle Teile des Golfspiels wieder zusammen bringen konnte. Ich habe noch die Hände dafür, auch wenn mein Körper nicht mehr derselbe ist.“ Der Rest ist harte, unermüdliche Arbeit; Tortur fast, um den geschundenen Körper des „wandelnden Wunders“ (Woods über Woods) wieder wettkampftauglich zu machen und sich an Turniertagen auf Betriebstemperatur zu bringen.
Niemand aktuell hat dieses 83. Masters so verdient wie der Mann im roten Sonntags-Shirt. Dafür muss man kein Fan von Tiger Woods als Golfer sein: Es ist der Respekt vor dem Menschen Eldrick Tont Woods, dessen Spitzname – entlehnt nämlich einem vom Vater bewunderten vietnamesischen Militär – so viel vermittelt über diese von Earl Woods getrimmte Golfsensation ohne Kindheit, Jugend und Jungmännertum. Was wunder, dass da irgendwann mal der Topf überkocht, siehe Sexskandal 2009.
Aus der Katharsis zu neuem Profil
Der Tiger früherer Jahre war ein Art Roboter, unzugänglich, misstrauisch, abweisend, arrogant in seiner tief verborgenen Unsicherheit, manisch auf sich und sein Golf fokussiert. Der Leidensweg zwischen außerehelicher Affäre, Sexsuchttherapie, Rückenoperationen und der Betäubungsmittel-Verhaftung im Mai 2017 samt neuerlichem Entzug hat ihn gehäutet; die Katharsis und der Blick in den drohenden Abgrund der Golfinvalidität verliehen Woods ein neues Profil, eine neue Attitüde und machten ihn menschlich. Er gibt sich zugewandt, ist locker und nahbar, scherzt mit Zuschauern, lacht mit Kollegen.
Der 43-Jährige wirkt schlichtweg echt, bei seinem wahren Ich angekommen. Und dankbar. „Dieser Erfolg kommt genau zur richtigen Zeit“, konstatierte Woods, nunmehr zweitältester Masters-Champion nach Nicklaus‘ Sieg mit 46 im Jahr 1986. „Jetzt sind endgültig alle Zweifel weg, ob ich noch mithalten kann.“
Katzen haben neun Leben
Woods lebte heuer in Augusta zuvorderst von seiner Platzkenntnis und blieb geduldig, obwohl zwischendurch sogar die Nachrücker Xander Schauffele und Patrick Cantlay vorbeizogen. Den Ausschlag gaben schließlich sein Eisen- und das kurze Spiel. An Loch 15 übernahm Woods die Führung und behielt die Nerven, inklusive Bogey auf der 18. Das Masters-Märchen war vollendet.
„Wir hörten lauten Jubel draußen auf dem Platz und entschieden unisono, unsere grünen Sakkos anzuziehen und runter zu gehen, um ihm zu gratulieren“, erzählte Bernhard Langer, der mit anderen Ex-Champions nach der Runde beim Kaltgetränk saß und Tigers Finish im TV verfolgte: „Das ist ein sehr spezieller Moment in der Geschichte des Golfsports und von Augusta National sowie für Tiger selbst.“
Mit Stand heute ist Woods Nummer sechs der Weltrangliste. Die Wandlung ist vollzogen, der Weg allerdings garantiert noch nicht zu Ende. Tiger hat gestern bewiesen, wie vorläufig scheinbar Unmögliches sein kann. Oder um mit seinem Ex-Trainer Butch Harmon zu sprechen: „Never say never!“ Katzen haben bekanntlich neun Leben…